Zu der Bildserie »Ahnen«

Stephan von Wiese, 1989

1984 setzt die große Bildserie »Ahnen« bei Halina Jaworski ein. In diesen Gemälden öffnen sich imaginäre spirituelle Räume, die zunächst architektonisch erfahrbar erscheinen. Doch in den Leitlinien der Konstruktion verirrt sich der Betrachter schnell und erfährt auf diese Weise: Die Räume, die die »Ahnen«-Bilder erschließen—oder die sich noch in ihnen verbergen — sind erlebte Innenräume. Dabei stehen wir häufig vor Raumsegmenten: Paravantartige Gebilde durchlaufen den Bildkörper, springen vor und zurück, klappen auf und zu, verstellen den Hintergrund oder öffnen den Blick. Die mehrteiligen Bilder erscheinen selber in sich eine solche paravantartige — man könnte auch sagen klappaltarhafte — Struktur aufzuweisen. Die diagonalen Bildlinien — mit schwarzer Lackfarbe unterstrichen — führen die Komposition nach oben, gleichsam aus den Bildkörper hinaus, in den Kosmos hinein. Der betonte Duktus des Pinselstrichs gibt den farbigen Flächen Transparenz, sie scheinen diaphan, von Licht hinterlegt.

Shofarim, 200 x 300 cm, Acryl auf Leinwand

Eine Handlung des Auf- und Zuklappens, ein Blättern wie in kostbaren Folianten scheint sich also in diesen Bildern abzuspielen. Die Gemälde weisen deutlich eine Erzählstruktur auf, die bei manchen der Werke durch Symbole näher bestimmt wird. Diese erzählerischen Details sind Hinweise auf die jüdische Synagoge, auf die jüdische Religion. Man sieht den siebenarmigen Leuchter, Menora, ebenso wie den Mittelpunkt des Synagogen-Gebäudes, die Bihma, von der aus gelehrt wird. Die Shoffar-Hörner des Neujahrsfestes sind zu erblicken ebenso der brennende Dornbusch. Auch Architektursegmente des Orients erscheinen. Eine Hommage auf den im 19. Jahrhundert 23jährig verstorbenen jüdischen Maler Mauricy Gottlieb — der ein Selbstbildnis in der Synagoge malte und auf dessen Gewand angespielt wird — wird gegeben.

Doch dieser Hinweis auf die »Wurzeln« ist nur ein Aspekt der »Ahnen«. Diese Bilder sind gemalt auch im Geiste bestimmter kunsthistorischer Vorbilder — man spürt die Auseinandersetzung etwa mit Lissitzky, mit dem russischen Konstruktivismus, auch mit Stella — und reflektieren schließlich den eigenen künstlerischen Werdegang, sind also eine komplexe Bündelung künstlerischer, historischer, menschlicher Erfahrung.

Vorausgingen beispielsweise ab 1979 die »Ecksen«-Reliefs, vieleckige, in den Raum klappbare Bildkörper, die ebenfalls bereits ein irreales Raumgerüst aufweisen. In der Installation »Verlorenes Paradies«, 1981 für die Düsseldorfer »Treibhaus«-Ausstellung geschaffen, begegnen wir in einer erzählerischen Zusammenstellung der in den Raum aufgeklappten vierteiligen blauen Pyramide — gleichsam ein auf dem Boden stehendes, spitz nach oben verlaufendes Bild von Sklaverei und Herrschaft, der Jakobsleiter, dem roten Ritterkreuz, dem Bildstock an der Säule mit der expressionistischen Teufelsbeschwörung.

Die konkrete Kunst, die Konstruktion führt in den Werken Halina Jaworskis zur persönlich erlebten symbolischen Form, zu malerischen Gedankenräumen, die sich erschließen und verbergen.

 

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